Philharmonischer Chor Kiel

Kieler Nachrichten, 03.01.2017

Dynamit und Feuer des Humanismus

Philharmonisches Neujahrskonzert mit Beethovens „Neunter“ unter Daniel Carlberg im Kieler Schloss

VON MICHAEL STRUCK

KIEL. Der Saal: ausverkauft. Die Aufführung: wohl die zügigste in den Neujahrskonzerten der letzten drei Jahrzehnte. Der Beifall: entschie­den und dauerhaft. Die Kieler Mitwirkenden: der stellvertretende GMD Daniel Carlberg, das Philharmonische Orchester, Kinder- und Jugend­chor (Einstudierung: Moritz Caffier), Opernchor uns Philharmonischer Chor Kiel (Einstudierung: Lam Tran Dinh) sowie die Vokalsolisten Lori Guilbeau (Sopran), Tatia Jibladze (Mezzosopran), Michael Müller (Tenor) und Timo Riihonen (Bass) vom Opernensemble. Das sind die äußeren Fakten einer packenden, manchmal fast getriebenen Aufführung von Beethovens 9. Symphonie im Schloss. Die Neunte steht alle zwei Jahre auf dem Programm des philharmonischen Neujahrskonzerts.

Es ist paradox: Im deutschen Kaiserreich des späten 19. Jahrhun­derts, das sich nur mühsam von der Klassengesellschaft zu verabschieden begann, wurde das menschheitsumspannende Werk, das in Schillers Ode an die Freude mit seinem Alle Menschen werden Brüder mündet, ebenso gern aufgeführt wie im nationalsozialistischen Deutschland und in den Jahrzehnten des DDR-Regimes. Dabei hätte die Botschaft des Werkes doch jeweils anecken müssen (es sei denn, man hätte viele Menschen von vornherein vom Anspruch „alle Menschen“ ausgegrenzt). Auch wer nur die „Freude“-Melodie des Finales hören, als Europahymne singen oder als Handy-Klingelton nutzen will, verkennt das Grenzensprengende der Neunten: Ohne die Spannungen, Kontraste, Kämpfe und Entrückungen der ersten drei Sätze ist das Finale nicht zu haben.

Noch veheenter, als wir es vor zwei Jahren bei der von GMD Georg Fritzsch geleiteten Aufführung erlebten, geht Dirigent Daniel Carlberg mit den Mitteln „historisch informierter“ Aufführungspraxis ans Werk. In vorurteilsloser Auseinandersetzung mit Beethovens Notentext spürt er das humanistische Feuer dieser Musik auf. Der erste Satz hat alle kolosshafte oder versteinernde Schwergängigkeit verloren. Nach dem tastenden Beginn, in dem das musikalische Material sich erst thematisch finden muss, wirkt das erste Themen-Tutti wie ein Vulkanausbruch. Überhaupt entwickelt dieses Musizieren eine loderndse Ausdruckshitze. Die lyrischen Momente verweigern jedes „Verweile doch“, die Synkkopen wirken wie Hefe im Orchestersatz. Manchmal wirkt das aufregende Brodeln der Musik fst atemlos – da ließe sich die Kunst des Überganges wohl noch verfeinern.

Doch Carlbergs Interpretationsansatz fasziniert – und die Leistung des hochmotivierten Orchesters ebenso. Irritierend ist nur eins: Wo in der Coda die Bläser über chromatischen Streicherfiguren eine Art Trauermarsch anstimmen, nimmt der Dirigent da Tempo vorüber­gehend so zurück, dass die Aufführung im interpretatorischen Mainstream landet – aus dem sie sich zum Glück bald wieder befreit.

Im Scherzo tut der Dirigent mit großen, eindeutigen, vorausdenken­den Gesten alles, um Präzision und Elan zu sichern. Der langsame Satz vereint Fließen und Intensität; die relativ schlanke Streicher­besetzung und die klanglich ebenso reizvolle wie spieltechnisch riskante Verwendung ventilloser Hörner wirken überzeugend. Und im Finale greifen alle Teile – auch aufgrund der von Carlberg mit dem Orchester klug und mutig austarierten Tempi – überzeugend ineinander. Beethovens eigenartige Pausen- und Staccato-Deklama­tion setzen der famose Chor und das ebenso treffliche Solisten­quartett zwingend um. Sie verzichten fast durchweg auf aufgesetztes Pathos, entdecken vielmehr das Dringliche des Ausdrucks in der musikalischen Bewegung. Hautnah kann man deshalb spüren, welche Brisanz bis heute und gerade heute in der musikalisch-dichterischen Botschaft der Neunten steckt.

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