Kieler Nachrichten, 03.01.1984
Ein Mysterium der
Klänge und Stimmungen
Beethovens 9. Symphonie zum Jahresbeginn im Kieler Schloß
KN: D. BRANDENBURG Kiel
Über Generationen hinweg war man sich darüber einig: Beethovens 9 Symphonie enthält eine Botschaft der Erlösung. Doch die Möglichkeit, diese Einsicht auch heute noch formulieren zu können — ohne anachronistischen Romantizismus und fragwürdigen Irrationalismus, ohne falsche Metaphysik — diese Möglichkeit verdanken wir vielleicht Ernst Bloch: Beethovens Neute ist musikalische Utopie, ist „Vor-Schein eines menschenmöglichen Elysium, für das noch keine Konkretion, aber an dem auch keine Mythologie ist.“ So formuliert Bloch im „Prinzip Hoffnung“ mit Blick auf den Gesang des Chores vom Schöpfer, der über den Sternen wohnt. Auch am diesjährigen Neujahrstag erklang die Erlösungsbotschaft wieder im Kieler Schloß, interpretiert vom Philharmonischen Orchester und vom Chor der Stadt Kiel unter der Leitung von Klaus Weise.
Die strengen Vorstellungen von musikalischer Interpretation, die der phantasievolle Asket Bloch entwickelte, löste Weise freilich nicht ein. Ihm geriet die Neunte zum Mysterium, zu einem Mysterium ohne falsche Weihe und Sentimentalität allerdings, das ganz aus der Musik selbst lebte. Mit Hingebung und Sensibilität entfaltete Weise Klangfarben und Stimmungen. Mit Temperament handhabte er Kontraste und Affekte der musikalischen Faktur, und er erzeugte hinreißend schöne Effekte und spannungsvolle Disposition.
Der zweite Satz beispielsweise: Dem verhalten gebrachten ersten Scherzo-Teil — Weise spürte selbst in der Themenexposition kleine Lyrismen auf — stellte er einen ungewöhnlich lebhaft genommenen Mittelteil („Trio“ würde man sagen, wenn Beethoven diese Bezeichnung nicht vermieden hätte) entgegen, um dann mit dem temperamentvoll gesteigerten Scherzo-Schluß eine effektvolle Finalwirkung zu erzielen. Ein faszinierendes Spannungsgefüge war so entstanden.
Ein Meisterstück von höchstem Rang gelang im langsamen Satz — durch wunderbar organische Phrasierung, die die Melodien klingen ließ und den Kantilenen Raum gab, durch unglaublich sensible Temponuancen und dynamische Ausgewogenheit. Hauchzarter Streicherklang präsentierte das erste Thema, wunderbar kantabel erklang das zweite, und in makellosem Wechselspiel von Holzbläsern und Streichern wurden beide Themen fortgeführt, betörend homogen und weich untermalt vom Bläsersatz aus Horn, Klarinette und Fagott. Überhaupt das Orchester: Es war in ganz großer Form; nur die Holzbläser brauchten im ersten Satz lange, bis sie zusammenfanden, und die Trompeten waren für meinen Geschmack manchmal zu dominant und direkt.
Weises Stil hatte aber auch Kehrseiten: Im Bemühen um homogene Klangflächen ging manches Motiv unter, wenn Instrumentengruppen nicht deutlich genug hervortraten und die musikalische „Mikrostruktur“ zuwenig prägnant durchgestaltet war. Gerade im kompositorisch so strengen Kopfsatz, dem Weises kontrastreiche Interpretation stellenweise fast impressionistische Zartheit abgewann (hier kamen die oft vernachlässigten Zusätze „ma non troppo“ und „poco“ einmal zu ihrem Recht: Weder das Allegro noch das Maestoso wurden übertrieben), blieb manches mysteriös. Und Weise übertrieb manche Effekte: So steht zwar der 38taktige Paukenwirbel in der Reprise des ersten Satzes im Fortissimo, aber damit ist gewiß nicht gemeint, daß er die übrigen Instrumente völlig übertönen soll. Gerade angesichts der relativ kleinenOrchesterbesetzung wäre etwas Zurückhaltung hier wohl besser gewesen (nichts im übrigen gegen das ausgezeichnete Paukenspiel!) Und ein Weiteres: Mit ekstatischem Temperament, wahrhaft feuertrunken, gestaltete Weise den Schlußsatz, und das war packend! Doch die eruptive Gewalt, die er dem Fortissimo-Höhepunkt auf der Textzeile „Und der Cherub steht vor Gott“ verleiht, deren Nachklang er in langer Pause auskostet, läßt das folgende Allegro assai mit der „türkischen Musik“ fast parodistisch erscheinen. Hier gefährdet der Effekt den musikalischen Zusammenhang.
Von Götterfunken beseelt schien der von Martin Pickard einstudierte Chor, der temperamentvoll, präzise und mitunter (vielleicht etwas zu selten) in herrlich zarten Tönen jubelte; meisterlich gelang der choralartige Satz aus „Seid umschlungen, Millionen“ und der folgende Doppelchor. Nicht ganz so inspiriert zeigte sich das Solistenquartett: Das berühmte, zugegebenermaßen sehr schwierige „Freunde, nicht diese Töne“ kam von Attila Kovaĉs (der für den erkrankten Hans Georg Ahrens einsprang) recht mühsam; später allerdings stützte er das Quartett sehr klangvoll. Raimo Sirkiä ließ einen klaren, aber nicht immer tragenden Tenor hören, ähnlich Marilyn Founds präzisem, aber hier manchmal zu leisem Mezzo; so war Frieda Lindburg mit ihrem kräftigen Sopran „prima inter pares“. Meist ergänzten sich die vier im dynamisch nuancierten, durchweg sauber intonierten Quartettgesang glänzend, aber kurz vor Schluß, in den sehr schwierigen lyrischen Koloraturen aus „Alle Menschen werden Brüder…“ waren vor allem der Tenor, aber auch die Frauenstimmen am Ende von Stimmkraft und -umfang angelangt.
Was dann folgt, ist der Schlußjubel, und der wird mir in Weises bacchantisch inspirierter Interpretation noch lange in Erinnerung bleiben — in sehr guter Erinnerung!