Philharmonischer Chor Kiel

Kieler Nachrichten, 13.04.1987

Musik, die dem Absoluten dient

Uraufführung von Rainer Kunads „Thomas-Evangelium“ im Kieler Schloß

Absolute Musik, so Rainer Kunad in seiner tief überzeugten, ener­gischen Art, das sei ein unsinniger Begriff; für ihn müsse Musik dem Absoluten dienen. Dieses Musik- und Selbstverständnis läßt sich von Kunads existentiellen Erfahrungen kaum ablösen. Die Wendungen zum Spirituellen, Übersinnlichen, hierzulande gern „Esoterik“ genannt, gerät bei uns ja leicht zur modischen Attitüde; doch Rainer Kunad hat für seinen Glauben an den transzendenten Sinn der Schöpfung und die geistige Botschaft seiner Musik seine Existenz als arrivierter Künstler in der DDR geopfert, hat sein Ansehen bereits zu einem Zeitpunkt aufs Spiel gesetzt, als noch ungewiß war, ob er überhaupt in die Bundesrepublik würde ausreisen dürfen.

In Kunads Thomas-Evangelium, begonnen 1984 in Dresden und im Westen vollendet, ist neben dem spirituellen Gehalt auch die bedrük­kende Situation kurz vor der Übersiedlung Ende 1984 eingegangen. „Fallen sah ich aufgestellt, Netze geworfen und ausgespannt“, in solchen Sätzen des apokryphen Textes erkannte der Komponist seine persönlichen Lebensumstände wieder. Jetzt brachte das 7. Sinfonie­konzert der Kieler Philharmoniker gestern im Kieler Schloß die Urauf­führung des Werkes. Da Hans Zanotelli noch immer krank ist, stand ein Gast und Freund des Komponisten am Pult: Ulrich Backofen, der Gründer des Musica Viva Ensembles Dresden, der seit 1983 in der Bundesrepublik lebt.

Dem Absoluten dient freilich auch das erste Werk in der Programm­folge, Händels Dettinger Te Deum — jedenfalls dem Text nach; anson­sten aber verrät diese Haupt- und Staatsmusik deutlich den martia­lisch-weltlichen Anlaß. Und die Zusammenstellung empfand Rainer Kunad denn auch durchaus als fruchtbare „Konfrontation“, die den Hörer zur Auseinandersetzung anhalten solle. Konfrontiert wurde man hier allerdings vor allem mit einer musikalischen Leistung, die man angesichts ihrer Mängel zumindest streckenweise kaum anders denn als peinlich bezeichnen kann. Zwar bescherten die Instrument­gruppen — Streicher und, mit kleinen Einschränkungen, Trompeten vor allem — manch „schöne Stelle“; und Falk Struckmann sang ein beeindruckendes Vokalsolo, mit klangvollem, blitzsauber geführtem Bariton. Aber was man da an miserabler Koordination, an merkwürdig indifferenten, oft schleppenden Tempi, an wackeligen, zögerlichen Einsätzen zu hören bekam, das konnte einem die Freude gründlich verderben. Da hat Ulrich Backofen wahrlich kein Meisterstück abge­liefert — und der von Imre Sallay einstudierte Städtische Chor auch nicht: Allenfalls die machtvollen homophonen Akklamationen konnten überzeugen, aber polyphone Passagen gerieten oft zu diffusem Gemauschel, Melismen „leierten“, vieles klang in den Einzelstimmen kläglich dünn.

Doch schweigen wir vom Unerfreulichen; wie sich nach der Pause dieselben Musiker (und einige mehr beim jetzt im wesentlichen romantisch besetzten Orchester mit reichlich Schlagwerk) für die Uraufführung des Thomas Evangelium — Oratorium für Soli, Chor und Orchester engagierten, das verdient allen Respekt. Man erlebte eine spannungsvolle Interpretation mit präzisen Einzelleistungen in straffer, differenzierter, temperamentgeladener Koordination; und mit sehr eindrucksvollen Chor-Passagen und schönen Solo-Leistungen: Erneut überzeugte Falk Struckmann; Claudia Rüggeberg sang ihre Alt-Soli mit voller Stimme in strahlendem, ausdrucksvollem Timbre; April Evans-Montefiore gab ihrer „Salome-Arie“ sinnlichen Glanz und „emotionales“ Tremolo. Der Protagonist der Solisten jedoch ist der Tenor mit seinen Jesus-Worten: Wolf-Hildebrand Moser interpretierte die Partie ausdrucksvoll und in Deklamation und Dynamik intensiv; allerdings klang seine Stimme manchmal etwas belegt und vor allem in hohen Tönen (bis zum hohen B muß er immerhin) angestrengt.

Kunads Thomas-Evangelium verwendet neben den Jesus-Worten des apokryphen Evangeliums auch Passagen der Thomas-Psalmen, die zumeist den „Arien“ zugrunde liegen. Die drei Teile, betitelt Frohlockendes Licht, Haß und Entzweiung und Auf wen willst du bauen?, sind in homophone Chor- und Solisätze, rezitativisch vorgetragene Jesus-Worte und ariose Vokalsoli gegliedert. Die musikalische Grundsubstanz der Partitur sind Dreiklänge, die aber nicht im Sinne der Funktionsharmonik, sondern in intuitiv wirkender Freiheit (sehr sinnfällig zu verfolgen an den Moll-Gruppierungen der drei Introduk­tionen) einander zugeordnet werden. „Tonal“ ist diese Musik daher nur in einem sehr weiten Sinne; zwar gibt es Passagen mit deutlich faßbaren Tonzentren, aber oft vollziehen sich die Harmonie-Wechsel so rasch, daß ein Zentrum kaum auszumachen ist. Diese assoziative, unvermittelte Fügung prägnant faßbarer Harmonien ist verantwortlich für den blockhaft-vertikalen Gestus der Musik, der selbst noch in den deklamatorischen Ton-Repetitionen der „Arien“ erhalten bleibt. Kunad sieht darin ein Symbol der Öffnung nach oben; und auch in der Drei­klangsharmonik steckt ein spiritueller Sinn: Die Moll-Terz steht für die gefallenen Engel, die Dur-Terz für die Reinheit des Lichts, die Disso­nanzen — und derer gibt es viele, schneidend scharfe Tritonus-Schich­tungen, grelle Sekundballungen — sind Klangbilder des Leidens­drucks.

Beim (ersten) Hören jedoch nimmt man solche Tiefenschichten kaum wahr. Man ist erschüttert von der suggestiven Wirkung der hymnischen Chor-Deklamationen, der manchmal fast fanatisch grellen Jesus-Worte, der aggressiven Blechbläsersätze. Daneben stehen zwar auch zarte, verinnerlichte Klänge; aber gerade der schroffe Kontrast steigert oft diese Erschütterung noch, die nicht unbedingt jene Befreieung und Öffnung bewirkt, die Kunad intendiert. Der vor allem in der Instrumentation äußerst effektvolle Primitivismus der Mittel — der Intention des Dienstes am Absoluten nach gewiß integer — entfaltet in seiner Wirkung eine beinahe demagogische Gewalt, strahlt einen fast brutalen Vereinnahmungsanspruch aus, wie man ihn selbst in traditionellen kirchlichen Werken kaum einmal findet. Und dabei sind auch die problematischen gnostischen Züge des Textes, der strenge Erwählungsgedanke oder die radikale Weltabkehr, mitunter triumphal auskomponiert.

Aber zugegeben:Wo Musik von letzten Dingen spricht, da müßte derjenige, der gültig urteilen wollte, diese letzten Dinge schon selbst kennen. Und wer wollte da Richter sein? Rainer Kunads Werk jeden­falls fand im Kieler Schloß eine durchaus freundliche Aufnahme. DETLEF BRANDENBURG

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