Philharmonischer Chor Kiel

Kieler Neueste Nachrichten, 02.11.1919

1. Symphonie-Konzert
des „Vereins der Musikfreunde“.

Eine Fülle ideenreicher Musik lag im Programm des Abends: Beethoven, Wagner, Liszt, umschlossen. Trotz Glut und Glast der Töne aber wollte das Publikum nicht recht erwarmen. Respektvoll hörte es dem Vortrage von Beethovens „Coriolan-Overtüre“ zu, und die Konzertarie „Ah, perfido“ hätte kaum ein anderes Schicksal erlebt, wäre nicht die von Wohllaut getränkte Gesangskunst der Frau Pos-Car­loforti aus Hamburg der Gegenstand allgemeiner Freude gewesen. Die moderne Zeit hat zu solchen Werken,die nach Charakter und Anlage an den Geist ihrer Zeit gebunden sind, kein unmittelbares Gefühlsverhältnis mehr. Aber die Coriolan-Musik ist zeitlos, ihr gehören die Jahrhunderte. Diese Musik soll man lieb haben von ganzer Seele. Man braucht ihr nicht „historisch“ nachzugehen; man braucht ihr Gewirk nicht zu zerfasern, ehe man dessen Schönheit erkennt; man bedarf keiner ästhetischen Analysen – all dieser Dinge spottet diese Beethoven-Musik, die nur in eins unsäglich anspruchs­voll ist: sie will erfühlt sein.

Liszt ist der Revolutionär. Er ging an der reichsten Frucht musikalischen Schaffens – die große Symphonie – vorbei und nur den Weisungen seines Temperaments nach. Seine Musik ist ein genialer Rausch: elementar in den Formen, entfesselt zu Dämonie der uner­sättlichkeit in den Klanganhäufungen, eine Predigt der Kraft, aber in der Sprache eines kultiviert gebändigten Naturalismus. Richard Wagner (mit seiner Faust-Ouvertüre) war der Dritte im Bunde, der uns die ganze herrliche Weite und Fülle des musikalischen Geistes­lebens erschloß. Von Liszt erklang die Dante-Symphonie. Himmel, Welt und Hölle werden in Bewegung gesetzt, und in gewal­tigen Stimmungbildern von räumlich größtem Ausmaße erschließt sich uns der Gedanken- und Gefühlsgehalt und auch die Ideal-Vorstellung einer Geisterwelt des Lichts und der Finsternis. Das Programm bot aus der vornehmen Feder des Liszt-Biographen Rudolf Louis eine Einführung in die Dante-Musik. Es erübrigt sich darum hier ein näheres Eingehen. Herr Prof. Stein unterzog sich hingebend der anspruchsvollen Leitung des Werkes, die er anerkennenswert ausführte, wenn auch nicht alle Impulse (z. B. die Orchesterrezitation und die Liebesmusik) zu restloser und erwärmender Wirkung kamen.

Frau Pos-Car­loforti sang im verschwenderischen Geben ihrer reichen Mittel die „Mittelalterliche Venushymne“ von d’Albert. Fluß und Geschlossenheit des Melos, auf starke Akzente gestellte, hinrei­ßende Deklamation, farbenreiche Klänge, das alles ergibt ein Stück von unmittelbarer Wirkung. Die Lisztschen Orchesterlieder treten dagegen an Unmittelbarkeit der Wirkung zurück. Der armen toten Nachtigall können wir das sentimentale Empfinden des Dichters nicht in gleichem Maße geben, und der „Loreley“ (das Volkslied soll hier dem Kunstliede nicht im Wege stehen) in ihrem Episodenspiel geht es ähnlich. Mit höchstem Interesse und voll Ehrfurcht schaut man hier in die Werkstatt des Meisters, den man bewundert.

Herr Professor Stein bewältigte eine umfangreiche und anspruchsvolle Aufgabe mit der Leitung des Konzerts, das einen sicheren Verlauf nahm. das Orchester spielte in großer Beweg­lichkeit schmiegsam, ein vielköpfiger Virtuose, der sich selber seinen Willen setzt. Die Bläser konnten sich mannigfach hervortun und boten in der Venushymne eine besonders lobenswerte Leistung. Der Frauenchor des Oratorienvereins sang das Magnificat in würdiger Weise.

Professor Hans Sonderburg.

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