Philharmonischer Chor Kiel

Kieler Neueste Nachrichten, 14.09.1920

Beethoven-Feier

Als man im Jahre 1870 sich anschickte, Beethovens hundertjähri­gen Geburtstag zu feiern, erschien Richard Wagners berühmte Schrift über den Großmeister, in der er von ernsten Prüfungen spricht, durch die die deutsche Nation ihren Wert zu erweisen gehabt habe. Wie eigenartig bedeutungsvoll klingt dieses Wort in unsere Zeit hinein, da wir den 150. Geburtstag des gewaltigen Tondichters begehen. Wie ganz andere Prüfungen hat doch in unseren Tagen das deutsche Volk bestehen müssen und muß es noch heute bestehen! Möge der Geist Ludwig van Beethovens in uns allen lebendig werden in der Erkennt­nis, daß trotz allem ein Volk nicht hoffnungslos sein darf, dem solche Werte bei seiner Wiederaufrichtung Kraftquelle und Stütze sein können, wie sie in den unsterblichen Werken Ludwig van Beethovens Gestalt gewonnen haben. So hat sicherlich mancher empfunden unter den vielen festlich gestimmten Hörern, die sich am Sonntagnachmittag im einfach geschmückten Stadttheater sammelten zu andächtig lauschender, begeisterungsfähiger Gemeinde.

Der Vorhang gleitet geräuschlos in die Höhe. Das stattliche städti­sche Orchester, verstärkt duch Mitglieder des Orchesters des „Vereins der Musikfreunde“ aus Hamburg und der imposante Festchor bieten ein ebenso anziehendes, wie verheißungsvolles Bild. In der Tat, verheißungsvoll! Ist es doch längst bekannt geworden, wie anhaltend ernst technische Vorarbeit und künstlerische Ausarbeitung an die hier zu lösende hochgestellte Aufgabe gesetzt worden ist. Der Erfolg hat das bestätigt.

Und nun hebt Professor Dr. Stein, der verdienstvolle Führer des großen Klangkörpers, den Taktstock, und die freundlich-ernsten Klänge der Ouvertüre „Die Weihe des Hauses“ ziehen durch den festfrohen Raum. Stein dirigiert ruhig, zunächst mit vornehmer Zurückhaltung. Das Orchester musiziert sauber, wohlabgetönt, unter Innehaltung vornehm klassischer Linie. Der Erfolg ist weihevolle Stimmung, andächtige Sammlung. Die Gemeinde ist festlich vorberei­tet, Hohes und Höchstes zu empfangen. Und so tritt sie daher, Frau Frieda Quast-Hodapp aus Berlin, wahrhaft eine Hoheprieste­rin ihrer Kunst; schon in ihrer äußeren Erscheinung eine Priesterin, eine Iphigeniengestalt, bereit und würdig, das Höchste zu sagen. Und sie sagt es im Klavierkonzert mit Orchester c-Moll, Werk 37. Alles Persönlichkeit, Plastik, immer Erlebnis. Die brillante Technik nur Mittel zum Zweck. Im Largo scheint ihr Spiel allem Irdischen entrückt von wahrhaft zauberischem Klang.

Vom Klavierkonzert, dessen Begleitpart das Orchester unter Dr. Steins umsichtiger Leitung mit seiner Anpassung sowohl wie wohl abgewiegter, klangschöner Darstellung der selbständig gehaltenen Partien ausführte, stieg dann im weiteren Verlauf des Abends die Darbietung zu den Höhen der Neunten Sinfonie. Das Haupt­kriterium bei einer Aufführung des gewaltigen Werks bieten mir allemal der 3. und 4. Satz. Gibt es einen schärferen Gegensatz als den 3. Satz mit seiner himmlischen Ruhe und 4. mit der großartigen dramatischen Entwicklung, beginnend mit den scharfen Dissonanzen des Eingangs über den reizvollen Werdeprozess des Freudethemas hinaus bis zu den Höhen, auf denen gegen den Schluß hin Chor und Orchester wandeln, d. h. dann wandeln, wenn der Chor nicht schwindlig wird, will sagen, wenn er so allseitig-gründlich vorbereitet ist, daß ihm auf seinen Höhen die Intonation nicht in die Brüche geht. Ich muß offen bekennen, daß ich der Wirksamkeit des Chores in einer Aufführung der „Neunten“ immer mit einer gewissen Beängstigung, um nicht zu sagen einem leisen Grauen entgegensehe. So war ich auch dieses Mal nicht ganz ohne Bedenken, und wurde aufs ange­nehmste enttäuscht. Der Chor hat seine sehr schwierige Aufgabe in der Tat nahezu glänzend gelöst, ein Beweis, mit welchem Fleiß, aber auch mit welchem nicht gewöhnlichen Geschick Professor Stein hier am Werk gewesen ist und mit welch rühmlicher Ausdauer ihm seine wackere Sängerschar folgte. Mit fast untadeliger Intonation glitten die Soprane glatt an den berüchtigten Klippen vorüber; dabei entwickelte der Chor eine Klangfülle und innerhalb derselben eine Abschattung der Farbe und musizierte, angeregt von seinem sich ganz einsetzenden, völlig über der Sache stehenden Führer mitsamt dem Orchester mit wachsender Begeisterung und mitreißendem Schwunge und krönte damit eine Leistung, die — nehmt alles nur in allem — rückhaltloser Anerkennung, ja hohen Lobes würdig ist. Dem Chor stand ein ausgezeichnetes Soloquartett zur Seite, das sich nicht allein durch ein ganz besonders schönes Zusammenpassen seiner einzelnen Stimmen auszeichnete, sondern auch künstlerisch-musika­lisch Hervorragendes bot: Frau Eva Bruhn aus Essen (Sopran), Frau Ottilie Metzger-Lattermann aus Dresden (Alt) und die Herren Waldemar Henke aus Berlin (Tenor) und Theodor Lattermann aus Dresden (Baß). In der „Missa“ werden wir in noch weiter gespanntem Rahmen dieses Künstlerquartett am Werke hören. Willy Orthmann

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