Philharmonischer Chor Kiel

Volkszeitung, 30.11.1957

Das Verdi-Requiem in St. Nicolai

Viertes VdM-Konzert mit Städtischem Chor und Orchester

Verdis Messa da Requiem erinnert an eine üppige Schönheit, die sich als Nonne kostümiert hat, ohne ihre höchst irdischen Reize verbergen zu können. Die „Messa“ ist eine ebenso unvollkommen als Oratorium verkleidete große Oper. Alles Geistliche daran ist formelhaft konventionell, nicht mehr als äußerliches Merkmal; der Geist ist weltlich durch und durch: In der Schilderung des Jüngsten Tages, in der Klage, in der Anrufung Gottes. Die Gläubigkeit, die hier zum Ausdruck kommt, ist keine andere, als die der zahllosen Verdischen Gebetsarien — trotz des ungleich anspruchsvolleren handwerklichen Aufwands. Nichts gegen diese Gläubigkeit; sie ist stark und ehrlich. Aber sie ist mit so typisch italienischer Unmittelbarkeit nach außen projiziert, daß man ständig versucht ist, nach dekorativen Katafalken Ausschau zu halten, auf daß die Kirchen-Kulisse vollends zur Bühne werde. — Immerhin und trotz allem: Es ist ein herrliches Werk, kraftvoll dramatisch und voll lyrischer Sanglichkeit, unendlich reich an melodischer Erfindung, und dabei durchaus „gelehrt“ im Tonsatz. Man darf nur keine reflektierend-vergeistigte Kirchenmusik erwarten, sondern muß einen echten, genialen Verdi bewundern wollen.

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Die Aufführung in der Nicolai-Kirche war sehr eindrucksvoll; man hörte ihr an, daß sie gründlich und intensiv erarbeitet war. Hans Feldigl hatte sie präzis einstudiert und leitete sie mit überlegener Sicherheit, durchdacht und logisch im Aufbau, hervorragend differen­ziert in der Dynamik. Seine Zeichengebung ist sparsam, genau, ein­deutig. Die Sänger behandelte er mit soviel Liebe und „Singverstand“, daß er ihnen gelegentlich sogar um ein weniges nachgab, wo es technischer Begrenzungen wegen wünschenswert (Chor) oder um schönen Klanges willen allzu verführerisch (Solisten) war. So erschie­nen die schnellen Tempi nicht immer scharf genug akzentuiert, doch es ging da nur um Bruchteile von Graden, die gerade bei diesem Werk nicht ausschlaggebend sind. Die Leistung des jungen Musikers war durchaus bewundernswert. — Der Städtische Chor sang seinen relativ kleinen, aber äußerst schwierigen Part diszipliniert, klang­schön, sehr variabel und „beteiligt“ im Ausdruck; die Männersstimmen haben an Gewicht und Leuchtkraft gewonnen, könnten jedoch immer noch Zuwachs vertragen.

Das ganze Werk lebt im Grunde von den Solopartien, ihren großen Rezitativen, Arien und Ensembles. Es steht und fällt mit der Qualität der Solisten. Hier war mit Ueberlegung engagiert worden. Ursula Lippmann sang und gestaltete die Sopranpartie wunderbar kulti­viert; ihre warm und lyrisch timbrierte Stimme ist technisch vollendet durchgebildet, der dramatische große Ton sitzt mit der gleichen Sicherheit wie das verschwebendste pianissimo, unerhört vielfältig sind ihre Ausdrucksmöglichkeiten, die sie klug und mit künstlerischer Intensität verwendet. — Diana Eustrati ist zwar kein Mezzosopran, sondern ein voluminöser, schwarzer Alt, dem die Höhe gelegentlich (besonders im piano) Schwierigkeiten bereitet, doch das metallische Timbre der Sängerin stimmte großartig mit dem von ihr noch leicht unterstrichenen Pathos der Partie überein. — Egil Frostmanns Tenor (was für ein Material!) klang am vollkommensten im mezza voce; manchmal gelang ihm in der Höhe auch ein strahlendes forte, häufig jedoch war der Ton dann noch zu flach. Technisch sehr schön durch­gefeilt seine „Ingemisco“-Arie. — Der von Verdi am sparsamsten bedachten Partie gab Mino Yahias kraftvoller edel geführter Baß Gewicht.

Das Orchester schien ausgezeichnet in Form, zumindest was die Streicher und das notwendigerweise etwas kompliziert plazierte Blech betrifft. Von den Holzbläsern hörte man — jedenfalls auf den vorderen Mittelplätzen im Kirchenschiff — kaum etwas. Auch die Wertung des Chores muß etwas pauschal bleiben, da es mit der Akustik in St. Nico­lai ziemlich hoffnungslos steht. (Offenbar wird es auch so hoffnungs­los bleiben, da sich die zuständigen Stellen nicht entschließen kön­nen, eine vernünftige Empore für große Kirchenkonzerte zu errichten.)

Davon abgesehen war der Abend ein künstlerisches Ereignis hohen Ranges. Der Applaus-Ersatz durch „ergriffene Stille“ ist diesem Werk nicht adäquat; das Publikum drängte bald hinaus, um seiner Begeisterung Luft machen zu können. S. M.

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Siehe auch: R. B. und Hellmuth Steger

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