Philharmonischer Chor Kiel

Kieler Neueste Nachrichten, 06.09.1922

Volkstümliche Motette

in der St.-Nikolai-Kirche.

Wie im vorigen Jahre, so hatte auch in der diesjährigen Herbst­woche der A-cappella-Chor des Oratorienvereins einen eigenen Motettenabend veranstaltet, der das ehrwürdige Gotteshaus am Markt wiederum mit andächtigen Hzuhörern füllte. — Diesmal waren es Johann Sebastian Bach und seine Vorgänger Heinrich Schütz und Joh. Rosenmüller, deren Motetten und Choralbearbeitungen gar lieblich erklangen.

Denn über die Leistungen des Chores ist nur Gutes zu sagen. Sein Leiter, Professor Dr. Stein, hat ihn in gewiß mühevoller Arbeit zu einer künstlerischen Höhe erhoben, die der höchsten Beachtung wert ist. Was bei diesem Singen an Klangschönheit, Sauberkeit und verinnerlichtem Vortrag geleistet wurde, war ganz ausgezeichnet. Aeußerlich fesselt den Hörer die edle Tongebung sowie das von allen Stimmen gleichzeitig durchgeführte Pianissimo und Decre­scendo. Den wahren Wert erhält dieses Zusammensingen jedoch durch das feine Verständnis für den Geist jener alten frommen Meister und das innere Miterleben der Worte, die in der Musik ihren Ausdruck finden. Weil dieses Singen von Herzen kommt, darum geht es zu Herzen.

Mit Spannung sah man den Orgelvorträgen des Professors und dreifachen Doktors Albert Schweitzer entgegen. Sein Vortrag Bachscher Werke — er spielte nur Bach — der Canzona, der Choral­vorspiele und der großen Fantasie und Fuge in g-moll war ganz im Sinn und Geist des großen Thomaskantors gehalten. Klare Durchführung der Themen, charakteristische Registerauswahl bei den drei köstli­chen Choralvorspielen, stolzer Aufbau der herrlichen Fuge — alles vereinigte sich, um das Orgelspiel dieses vielseitigen Mannes zu einem erlesenen künstlerischen Genuß zu machen.

Dr. Rosenthal sang mit durchgeistigtem Vortrag unter Mitwir­kung des Frauenchors den Pharisäer in einer biblischen Szene des alten Schütz, während die Tenorpartie des gleichzeitig sein Bußgebet singenden Zöllners Emil Graf übertragen war. Die Stimme klingt sehr schön, sie hat echten Tenorklang. Schade, daß man ihn nur dieses eine Mal hörte. Bei dem von Dr. Rosenthal gesungenen Baßsolo aus der Bachschen Kantate „Ich habe genug“ führte Professor Dr. Herner mit schöner Tongebung so recht stilgemäß die Partie der Solovioline durch. Der Organist Oskar Deffner war ein feinsinniger Begleiter der Solo- und Chorgesänge.

Es war ein lobenswerter Gedanke, den Bachschen Choralvorspie­len für Orgel gleich einige vom Chor gesungenen Verse desselben Chorals folgen zu lassen. Der Eindruck wurde dadurch nur vertieft.

Allen Mitwirkenden gebührt ein warmer Dank für die schöne Feier­stunde, die sie allen denen brachten, die in dieser trüben Zeit Freude und Trost aus einer anderen Welt begehrten. J. Martens.

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