Philharmonischer Chor Kiel

Kieler Neueste Nachrichten, 13.09.1921

Kieler Oratorienverein.

Große Messe in H-moll von Johann Sebastian Bach.

Es waren zunächst äußere Umstände, die den Leipziger Thomas­kantor veranlaßten, an die Schöpfung einer neuen Messe zu gehen. Als er im Juli 1733 nach Dresden reiste, um dem Kurfürsten das „Kyrie“ und „Gloria“ mit einem Handschreiben zu überreichen,war es Bach zunächst um die Besserung seiner äußeren Lage zu tun. Er hoffte, daß „alle Bekränkung und Verminderung derer Accidentien, so er hatte empfinden müssen, gänzlich nachbleiben möchten“, wenn der Kurfürst ihn „in seine mächtigste Protection zu nehmen geruhen und ihm ein Praedicat von Dero Hofcapelle gnädigst conferieren würde.“ Zunächst wollte Bach es sicher bei einer „Missa brevis“ belassen, wie er solche schon früher, allerdings in kleinerem Umfang komponiert hatte. Aber der Stoff hatte den Meister zu sehr gepackt. In den nächsten Jahren fügte er in den gleichen gewaltigen Aus­maßen das „Credo“ und „Sanctus“, zuletzt das „Agnus Dei“ hinzu, so daß 1738 das Riesenwerk vollendet dastand.

Wie kam aber der strenggläubige Protestant dazu, Messen zu schreiben? Ist nicht die Messe ein Bestandteil gerade des katho­lischen Gottesdienstes? Nun — einmal war im 18. Jahrhundert die Messe noch nicht aus dem protestantischen Gottesdienst verbannt: „Kyrie“ und „Gloria“, zuweilen auch das „Sanctus“, mußten immer noch an Festtagen in der Liturgie „musiziert“ werden. Vor allem jedoch war der Text der Messe auch das Bekenntnis eines frommen Protestanten. So sprach aus Bach sein Innerstes, wenn er den Messetext duch seine gewaltige Tonpredigt deutete. Sicher ist, daß Bach gerade diesmal etws Außergewöhnliches leisten wollte, denn sowohl nach Form und Anlage wie vor allem in der Eindringlichkeit der Tonsprache geht das Werk weit über das gewohnte Maß hinaus.

Die Form der einzelnen Sätze ist die einer großen Kantate mit Solo- und Chorgesängen, so umfangreich, daß beispielsweise „Gloria“ und „Credo“, jedes für sich, aus acht Nummern bestehen. Die Ausge­staltung der musikalischen Gedanken ist überreich. Wenn man glaubt, nun habe der Meister die Worte bis zu allerletzt ausgedeutet,da nimmt er sie, wie Kretzschmar zutreffend sagt, von einer anderen Seite und entwirft ein neues ergänzendes und packendes Bild, das in der Regel als ein Meisterstück von Phantasie und Kunst das voran­gegangene noch überbietet.

Nicht zum mindesten aber ist es die Anschaulichkeit und Bered­samkeit der Tonsprache, die den Hörer gefangen nehmen. Immerhin gehört eine gewisse Uebung in der Fähigkeit des Hörens dazu, denn um tiefer zu schürfen, ist es notwendig, ein Thema erfassen und durch alle Stimmen hindurch verfolgen zu können. Freilich erklingen in den großen fünf- und doppelstimmigen Chören oft zwei und mehr Themen nach- und miteinander. Da heißt es denn für den aufmerksamen Hörer, sich dem Gesamteindruck hinzu­geben. Dann fühlt er bei den Seufzern des „Kyrie“ die eindringliche Bitte um Vergebung, dann jubelt er mit im „Gloria“ und „Pleni sunt coeli“. Dann reißt es ihn fort in dem machtvollen „et resurrexit“ und „cum sancto spiritu“ und in andächtiges Schauern versenkt ihn das „Qui tollis“ und „et incarnatus est“. Aber auch in den Sologesängen, den Arien und Duetten, mit ihren breit angelegten, von Violine, Flöte oder Oboe umschmeichelten Melodien wird der andächtige Hörer den Grundton schon herausfinden. Sie haben, um mit Spitta zu reden, der Mehrzahl nach etwas Idyllisches; sie sind die freundlichen Täler im Hochgebirge.

Um alle Großartigkeit und Schönheit des Wunderwerkes auch nur annähernd auszuschöpfen,dazu wird ein einmaliges Hören selbst einem Musiker nicht genügen. Es war deshalb ein guter Gedanke der Leitung des Oratorienvereins, öffentliche Proben zu veranstalten. In drei Chorproben und einer konzertmäßigen Hauptprobe war jedem Gelegenheit gegeben, das Werk kennen zu lernen. Nur wer so vor­bereitet am Sonntag in die Nikolaikirche kam, dem erschloß sich die Wunderwelt Bachs in ihrer ganzen Tiefe.

Denn die Aufführung durch den Festchor — das darf schon vorweg gesagt werden — übertraf alle Erwartungen. Durchgängig war alles so schön, so weihevoll, so getragen von innerem Miterle­ben, daß Kiel seit dieser Wiedergabe des schwersten Werkes Johann Sebastian Bachs nicht hinter anderen Großstädten zurückzustehen braucht. Alle unendlichen Mühen des Einstudierens sind reichlich belohnt worden. —

Gleich in den ersten vier Takten, gewissermaßen der „Ueberschrift“ des Ganzen, war die leichte Intonationstrübung bei der letzten Hauptprobe verschwunden und nach dem Instrumentaleinsatz beginnt der Tenor mit der Klage eines schuldbeladenen Herzens: „Kyrie, eleison“. Nach einander stimmen der Alt, die Soprane und der Baß in den Klagesang ein. Es tritt ein zweites Motiv über die Worte „eleison“ hinzu. Bald jedoch kehrt Bach zum ersten Thema zurück. Erneut und immer dringlicher hört man in gewaltigen Steigerungen die fünf Stimmen in „Reu und Buß“ um Vergebung flehen, bis der gewal­tige Schluß mit der unvermuteten, aber um so packenderen Dur-Terz dem Rufen einstweilen ein Ende bereitet.

Im folgenden „Christe eleison“, einem Duett zwischen Sopran und Alt, weicht die Klage einer freundlichen Zuversicht. Es ist, als wenn die den Gesang umschmeichelnden Violinen schon Erhörung verheißen. Der zweite Chor über den gleichen Text wie der Eingangschor klingt schon, wenn auch ergebensvoll, so doch zuversichtlicher. Zwei Themen werden in der bei unserm Meister immer staunenswerten Kunst des Satzes durchgeführt. Trotz und bei aller Formenkunst ist dieser Chor von eindringlicher Wirkung. Gegen das Ende ertönen angsterfüllte Rufe, bis alles in einen weichen Schluß ausklingt.

Im „Gloria“ erzielt Bach durch die gleiche Art, einen wuchtigen Chor an den Anfang und Schluß zu stellen, den übrigen Inhalt aber zum überwiegenden Teil durch Soli und Duette auszudrücken, eine ungeheure Wirkung. Es würde bei der allzu großen Fülle des Stoffes zu weit führen, wollte man nur flüchtig (wie soeben bei der Dar­stel­lung des „Kyrie“) auf Einzelheiten eingehen. Wie der Chor dort die Stimmung des bekümmerten Gemütes aus Beste traf, so nicht minder in prächtig abgerundeter Fülle bei dem Jubel des „Gloria“. Orgel und volles Orchester, voran die Trompeten,schmettern Ehre dem großen Gott. Der ganze Chor fällt mit Freudenrufen ein — bis auf einmal ein kleinerer Chor das „et in terra pax“ übernimmt. Ein feines, wohlabgewo­genes Singen; es klingt wie eitel Weihnachtsfreude. Bei den Worten „bonae voluntatis“ greift der volle fünfstimmige Chor wieder ein, um in der Doppelfuge den Lobgesang zu schließen. Nach dem ernsten „Gratias agimus“ folgt das weiche „Qui tollis“, einer jener Chöre, die durch ihre ins einzelste hinein ausgefeilte Dynamik den Hörer tief ergreifen. Möglich, daß das dreifache „p“ am Schluß noch zarter klingen kann; aber auch so war es schön, erhebend schön. Den Beschluß dieses zweiten Teiles macht der ebenso glänzende wie machtvolle Chor „cum sancto spiritu“. Auch hier werden die Höhen erklommen, die großen rhythmischen Schwierigkeiten vom tapferen Chor mit einer Selbstverständlichkeit überwunden, die staunenswert ist. Was mag die Einstudierung für Mühe gekostet haben! Auch wer nichts von Themen und Durchfüh­rung ahnt — die überwältigende Macht und grandiose Freude, die aus diesen Tönen spricht, muß er verstehen.

Dem „Credo“ liegt als Thema ein gregorianischer Choral zugrun­de. Alles hat darum einen breiten, ehrwürdigen Charakter, Das vom Meister einfacher gehaltene „et incarnatus est“ erfährt eine ausgezeich­nete Wiedergabe. Dann folgt einer der bewundernswertesten Sätze der ganzen Messe, das „Crucifixus“. Ueber dem dreizehnmal wieder­kehrenden Baß klagen und trauern die oberen Stimmen um den Ge­kreuzigten, bis der Gesang im zartesten Pianissimo erstirbt. Da — auf einmal — glanzvoll, prächtig, vom vollen Orchester und Orgelklang begleitet, ertönt der Jubelruf „et resurrexit“. Es ist heller Osterjubel nach der Karfreitagstrauer. Der letzte Chor dieses dritten Teiles, des „confiteor“, bildet einen großen Jubel- und Triumphgesang, der ebenso klar wie mächtig wiedergegeben wird.

Im „Sanctus“, dem lieblichen Wogen und machtvollen Fluten der Töne, hält der Chor ebenso wie bei dem festlichen „Osanna“ ohne Ermüden und Sinken durch.

Das „Agnus Dei“ endlich bringt den Schlußchor „Dona nobis pacem“ mit demselben Thema wie das „Gratias agimus“ des zweiten Teiles. In friedevoller Stimmung schallt es empor, ein erhörtes Gebet. —

Für die Einzelgesänge und Duette, deren Ausführung Künstlerpersönlichkeiten verlangt, soll anders das große Werk in allen seinen Teilen gelingen, war das „Rosenthal-Quartett“ gewonnen worden. Mit außergewöhnlicher Hingabe versenkte es sich in seine durchwweg schwere Aufgabe. Alles war wohlvorbereitet und durchdacht, es klang stilecht, in bachschem Geiste. Die einzelnen Stimmen sind allerdings nicht gleich zu werten. Martha Adam hat einen ungewöhnlich ausgiebigen, dunkelgefärbten, kraftvollen Alt. Es war auch Seele in allem, was sie sang. Eva Bruhns wohlklingender, in allen Lagen gut ausgeglichener voller und tragfähiger Sopran eignet sich für den Kirchengesang vorzüglich. Ihr Vortrag ist fein abgewogen. Hans Litzmann bringt seinen biegsamen Tenor gut zur Geltung. Ausdrucksvoller Vortrag ist ihm eigen. Mit seiner Vokal­bildung dagegen kann man sich nicht immer einverstanden erklären. Dr. Rosenthals Baß ist für die Partien dieser Messe zuweilen nicht machtvoll genug. Er gleicht das indes durch seinen fein ausgefeilten Vortrag aus — ein intelligentes Singen.

Und nun die Instrumentalsolisten alle, von deren künstlerischem Können und Wollen so sehr viel abhängt! Zuvörderst Dr. Oppel, der technisch sowohl wie in der Stimmenauswahl in seiner Orgelbegleitung ganz Ausgezeichnetes leistete. Das ganze städtische Orchester, darunter die häufig mit den Sing­stimmen gleichzeitig konzertierende Solo-Geige, Flöte, Oboe und das Horn — alle waren bei der Sache und taten ihr Bestes.

Und nun der spiritus rector? Professor Dr. Stein hat in zahlreichen Proben mit unendlicher Mühe und — Geduld den Chor auf eine Höhe gebracht, die, wie schon vorhin gesagt wurde, den Vergleich mit den großen Chören anderer Städte nicht zu scheuen braucht. Der soge­nannte „kleine Chor“ sang geradeze ideal. Kleine Wünsche sollen angesichts des großartigen Gesamteindrucks zurücktreten. Eine spätere Wiederholung wird vielleicht eine noch wirksamere Dynamik bei dem Steigern und Abfluten der Tonmassen zeitigen, einen noch präziseren Einsatz der Stimmen hervorbringen. Dafür bürgt die Person des Führers mit seinen ihm willig folgenden Truppen. — Aber es war auch so schön, erhebend, weihevoll. Die in großen Scharen herbeigekommenen Hörer haben Stunden edelsten Genie­ßens durchleben dürfen. Herz und Gemüt wurden erfreut und geho­ben. Dafür sei allen auch von Herzen gedankt. J. Martens.

*

Siehe auch Paul Becker.

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